TalentAward Ruhr: Preisträger:innen 2024
Bei der Preisverleihung 2024 wurden vier Preisträger:innen vor rund 500 Gästen im thyssenkrupp-Quartier in Essen ausgezeichnet – parallel wurde die Veranstaltung im Live-Stream übertragen.
Christiane Gühmann, Karlschule Essen
Individuelle Lernförderung - kreative Lernangebote - multiprofessionelles Team
Egal, ob ein Kind im Unterricht gerade stark abfällt, ob es Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache oder der nächsten Mathearbeit hat: Christiane Gühmann und ihr Team an der Karlschule lassen kein Kind zurück. Durch ihre individuelle Lernförderung erreichen sie jede Schülerin und jeden Schüler an ihrer Grundschule im Essener Norden, einem eher herausfordernden Stadtteil, und fördern gezielt individuelle Talente und Stärken. „Wir können immer schnell nachsteuern und ein Kind in die Lernförderung mit hineinnehmen“, sagt Schulleiterin Gühmann. Das gelingt nur dank des einzigartigen multiprofessionellen Teams, das die 51-Jährige zusammengestellt hat. Dieses setzt sich zusammen aus Lehrkräften, Studierenden, Lernförder:innen, Alltagshelfer:innen und sogar zwei Hunden.
Zweimal in der Woche findet die Förderung im Anschluss an den Unterricht in Einzel- und Kleingruppen statt. Um die Inhalte zu planen und auf das einzelne Kind zuschneiden zu können, braucht es im Vorfeld den gemeinsamen Austausch und die Planung mit den Lehrkräften. Sie sprechen Unterstützungsbedarfe an und berichten über die Entwicklungen der Kinder, so dass eine Verzahnung von Unterricht und Lernförderung gelingt.
Jede:r im Team hat unterschiedliche Aufgaben und Kompetenzen: Eine Lernförderin ist seit vielen Jahren Integrationshelferin an der Schule und bringt dadurch ein besonderes pädagogisches Gespür mit, während eine andere Kollegin sich regelmäßig im Bereich Deutsch als Zweitsprache fortbildet und entsprechende Angebote wie z.B. zur Leseförderung macht. „So haben wir die Möglichkeit, nicht nur ‚Lesen, Schreiben, Rechnen‘ zu fördern, sondern auch auf die ganzheitliche Entwicklung der Kinder zu achten und diese mit den Kompetenzen der einzelnen Kolleg:innen im Team zusammenzubringen“, führt Gühmann aus.
Die Schwerpunkte der Lernförderung liegen in den Bereichen Sprachförderung, Geschlechtergerechtigkeit, MINT-Förderung und Inklusion, wobei diese sich in der Lernförderung oft miteinander verbinden. Beispielsweise geht es beim Bau eines Drachens nicht nur um zentimetergenaues Zeichnen, sondern auch um die Kommunikation miteinander sowie darum, dass Jungen und Mädchen etwas gemeinsam erarbeiten. „Das sei ganz wichtig“, sagt Gühmann. „So wird gleichzeitig auf die MINT-Förderung geachtet und jede:r nach Talent gefördert, nicht nach Geschlecht.“ Um die Jungen und Mädchen kreativ zu fördern, werden vor allem motivierende und handlungsorientierte Materialien eingesetzt. Die Schulhunde Fee und Theo verbessern zudem die Konzentration, reduzieren Stress, bauen Ängste ab und stärken die Wahrnehmung sowie das Selbstbewusstsein der Kinder.
So ist die Lernförderung an der Karlschule zu einer Erfolgsgeschichte geworden: Es seien sowohl die vielen „kleinen Erfolge“ als auch die „bedeutenden Fortschritte“, erklärt Gühmann. „Zum Beispiel, wenn wir bei einem Schüler merken, dass er das Schuljahr doch nicht wiederholen muss.“ Oder wenn einer Schülerin auf einmal ein toller Aufsatz gelingt, nachdem sie in der Lernförderung gezielte Unterstützung erhalten hat. Immer wieder machen Gühmann und ihr Team die Erfahrung: „Es steckt genug in jedem Kind, wir müssen es nur herauskitzeln und darin festigen.“ Denn jedes Kind hat Talente und Stärken, davon ist Christiane Gühmann überzeugt.
Maik Ikert, Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck
Für Technik begeistern - Schüler:innen auf die Arbeitswelt von morgen vorbereiten
Ihm selbst hat zur Schulzeit eine AG gefehlt, die ihn so richtig gepackt hat, erinnert sich Maik Ikert. Irgendwas mit Technik wäre toll gewesen. Deshalb gründete er Jahre später selbst eine: Die Software-AG an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck (EGG).
Technik hat den heute 28-Jährigen schon immer interessiert. Als er an der Berufsschule eine Ausbildung zum informationstechnischen Assistenten machte, kam ihm der Gedanke: „Ich muss das Wissen, das ich habe, weitergeben. Zum einen, damit ich es mir selbst besser merke und zum anderen, damit andere davon profitieren können.“ Und so klopfte Maik Ikert im Schuljahr 2013/14 mit dem AG-Vorschlag bei seiner alten Schule an. Dort erhielt er direkt Zuspruch von der Schulleitung, später von den Schüler:innen selbst. Immer mehr Jugendliche wollten mitmachen – Schüler:innen von der fünften Klasse bis zur Oberstufe. Bis heute ist die Software-AG ein Dauerbrenner. Auch weil Ikert sich an den Wünschen der Teilnehmenden orientiert: „Wir machen das, was die Schüler:innen wollen. Wenn sie sagen, wir bauen jetzt einen Snackautomaten, dann planen und bauen wir einen Snackautomaten.“
Maik Ikerts Engagement geht mittlerweile über die Arbeitsgruppe hinaus. In der Projektwoche der Gesamtschule bietet er jedes Jahr ein Technikthema an. In diesem Jahr hat er mit den Schüler:innen ein automatisiertes Reaktionsspiel entwickelt. Dabei hängen sechs Stäbe an einem Holzgestell. Darin sind Elektromagneten verbaut, die in einer zufälligen Reihenfolge ausgehen, so dass jeweils ein Stab herunterfällt. Dann geht es um Reaktionsgeschwindigkeit: Fängt man den zufällig herunterfallenden Stab? Planung, Programmierung, Bau und Gestaltung: Alles hat Maik Ikert gemeinsam mit den Teilnehmenden der AG gewuppt – und präsentiert! „Im Anschluss kamen auch andere Schulen auf uns zu und haben gefragt, ob sie das Ding mieten können. Wir sind jetzt dabei, Schaltpläne zu erstellen, damit das Projekt nachgebaut werden kann.“
Ikert ist sich sicher: Wir brauchen im Alltag einfach ein gewisses Technikverständnis. Deshalb baut er das Engagement an seiner ehemaligen Schule weiter aus. Gemeinsam mit anderen Lehrer:innen hat er das fächerübergreifende Projekt „Die Maker der EGG“ gegründet. Das erste Vorhaben: Eine Nistkasten-Kamera, die auf YouTube live streamt, wie Vögel brüten. Der Stream wurde beispielsweise von einem Biologielehrer in den Unterricht eingebaut.
Sein neuestes Projekt: Die Gründung des Vereins „BitBiber TechTalente“. Diesen Verein hat er gemeinsam mit zwei Lehrern und einem Freund auf die Beine gestellt, um künftig auch Workshops und Unterrichtsmaterialien an anderen Schulen anzubieten. So sollen möglichst viele Schüler:innen erreicht und inspiriert werden. „Man muss die Zugangsschwelle niedrig setzen“, ist Ikert überzeugt. Es gehe nicht darum, ein top Programmierer zu werden, aber ohne ein gewisses Technikverständnis werde man es in Zukunft und auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Es ist dem 28-Jährigen wichtig, zu vermitteln: Noten sind nicht alles. Maik Ikert ist selbst ungern zur Schule gegangen, hat seinen Realschulabschluss an der Gesamtschule „gerade so“ bestanden, er hat eine Ausbildung und ebenso sein Studium abgebrochen. Trotzdem hat Ikert nicht aufgegeben – bis er das gefunden hat, was ihm Spaß macht. Heute ist er Fachinformatiker Systemintegration bei einer renommierten Firma in Essen. Er kümmert sich darum, dass die Computersysteme laufen und vor Hackerangriffen geschützt sind. Sein ehrenamtliches Engagement in der Software-AG, im Projekt die „Die Maker der EGG“ und für seinen neu gegründeten Verein, erfüllt ihn ebenso: „Es gibt keine bessere Bezahlung als zu merken, dass Leute Feuer und Flamme sind für das, was wir machen.“
Mechthild Schroeter-Rupieper, Familientrauerbegleitung LAVIA
Durch die Trauer begleiten - Talente weiter wahrnehmen und fördern - Mut für die Zukunft machen
Abgestempelt als Störenfried, Ärger mit den Erzieher:innen oder Lehrkräften, schlechte Noten, im schlimmsten Fall eine gescheiterte Schullaufbahn – das kann passieren, wenn die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen nicht gesehen und aufgefangen wird. Genau das leistet Mechthild Schroeter-Rupieper: Durch Trauergruppen speziell für Kinder und Jugendliche hat sie eine innovative Möglichkeit geschaffen, um junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen. Dafür kommen Kinder und Jugendliche aus ganz NRW ins LAVIA-Haus in Gelsenkirchen.
Die Kinder und Jugendlichen, die Mechthild Schroeter-Rupieper und ihr Team begleiten, haben den vermutlich schlimmsten Einschnitt ihres Lebens erlitten: den Tod eines Elternteils oder eines Geschwisterkindes. Oft ist die Traurigkeit überwältigend: „Wir erleben hier, dass Kinder und Jugendliche, die einen Verlust erlebt haben, sehr verunsichert sind, sich aber nach außen anders geben, als sie sich innen fühlen“, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper. Das kann beispielsweise dazu führen, dass Kinder Angst haben zu weinen, krank werden, nicht mehr in die Kita oder Schule gehen oder ihre Schulnoten abrutschen.
So erging es auch Moritz, der mit sieben Jahren seine Mutter verlor. In der Schule verschlechterten sich seine Noten daraufhin erheblich. Moritz spielte entweder den Klassenclown oder wurde wütend. Seine Lehrerin konnte sein Verhalten nicht einordnen und dachte, dass Moritz bewusst den Unterricht stört. Ein Wechsel zur Förderschule drohte, weil niemand seine Unkonzentriertheit oder seine Wut mit dem Tod seiner Mutter in Verbindung brachte. Seine Scherze wurden nicht als Überspielen seiner Traurigkeit wahrgenommen. Erst mit Mechthild Schroeter-Rupieper lernte Moritz mit seinen Gefühlen umzugehen, sie zuzulassen, einzuordnen und mit anderen darüber zu reden.
„Es geht hier auch immer wieder um Resilienzstärkung“, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper. „Und darum, ihnen Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten.“ In Einzel- oder Gruppenstunden lernen die Kinder und Jugendlichen Krisen zu bewältigen, sie üben z. B. mit einem Emotionswürfel ihre Gefühle zu benennen.
Gleichzeitig arbeiten sie aber auch daran, wieder zu erkennen, wer sie TROTZ der Erfahrung des Verlustes sind und was sie alles können: schwierige Themen kommunizieren, für sich selbst und andere da sein und Talente und Interessen hinter der Trauer erkennen. Das alles sind wichtige Kompetenzen für eine erfolgreiche Schullaufbahn. „Wir geben ihnen ihre Zukunftsperspektiven zurück“, fasst Mechthild Schroeter-Rupieper zusammen.
Auch Moritz hat die Trauerbegleitung gestärkt: Statt auf die Förderschule zu gehen, hat er das Abitur bestanden. Heute ist er selbst ausgebildeter Trauerbegleiter und unterstützt Kinder und Jugendliche dabei, ihren Weg trotz Trauer zu finden. Moritz studiert derzeit auf Lehramt und unterrichtet bereits an einem Berufskolleg.
Mechthild Schroeter-Rupieper ist oft an Schulen und in Kitas, um Lehrkräfte und Erzieher:innen zu schulen, damit diese erkennen, wenn sich Kinder vielleicht wegen unterdrückter Trauer verändern oder auffällig werden und entsprechend reagieren können. Sie ist davon überzeugt, dass die Arbeit mit der Trauer dazu beiträgt, dass sich die Kinder und Jugendlichen zu starken Persönlichkeiten entwickeln, die wissen, was sie brauchen und was sie stark macht. So bekommt das Leben der Kinder und Jugendlichen wieder Platz für andere Dinge: Für eigene Talente, eine erfolgreiche Schullaufbahn und den Blick in die eigene Zukunft.
Milad Tabesch und Selvican Sahin, Ruhrpott für Europa
Politische Teilhabe fördern - jungen Menschen eine Stimme geben - Europa mitgestalten
Junge Menschen im Ruhrgebiet haben das Potenzial, Europa mitzugestalten. Davon sind Milad Tabesch und Selvican Sahin überzeugt. Dafür müssen die Forderungen, Sorgen und Wünsche, aber auch die Kritik junger Menschen im Ruhrgebiet Gehör finden. „Wir müssen insbesondere dahin gehen, wo die jungen Leute sich nicht angesprochen fühlen, wo sie nicht das Gefühl haben, dass ihre Stimme etwas wert ist“, betont Tabesch.
Mit Blick auf die anstehenden Europawahlen startete Milad Tabesch im Sommer 2023 mit dem einzigartigen Projekt „Ruhrpott für Europa“. Das Ziel: Jungen Menschen den Zugang zu politischer Bildung eröffnen, sie dazu ermutigen, das Ruhrgebiet und Europa aktiv mitzugestalten und sich als Teil einer lebendigen, demokratischen und inklusiven europäischen Gemeinschaft zu verstehen. Dies stieß auf so großes Interesse, dass er schon bald Unterstützung brauchte und Selvican Sahin ins Projekt einstieg. „Oftmals sind Jugendliche frustriert, fühlen sich nicht gehört, wollen sich engagieren, wollen etwas unternehmen, wissen aber nicht, wie und wo sie ansetzen können. Unser Ziel ist es, durch Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit dieser Gruppe von Menschen Gehör zu verschaffen, ihnen Mut zuzusprechen und ihnen bewusst zu machen, dass jeder von ihnen etwas in der Gesellschaft verändern kann“, erzählt Sahin.
Mit öffentlichen Veranstaltungen, bei denen sie Jugendliche mit Expert:innen aus Politik und Gesellschaft zusammenbrachten, um miteinander zu diskutieren, sowie einer starken Präsenz auf Social Media schafften es die beiden, jungen Menschen zu verdeutlichen, dass ihre Stimme eine Bedeutung hat. Mehr als 50 Workshops führten sie an Schulen im gesamten Ruhrgebiet mit 875 Jugendlichen durch, um mit ihnen in den Austausch zu kommen und ihre politischen Anliegen und Wünsche zu erfahren. „So entsteht Nähe auf Augenhöhe“, sagt Milad Tabesch und freut sich immer wieder, wenn seine Rechnung aufgeht und Schüler:innen am Ende fragen: „Wie kann ich mitmachen, wie kann ich mich auch engagieren?“ Tabesch und Sahin bieten jungen Leuten an, sich zu ehrenamtlichen Trainer:innen ausbilden zu lassen, um selbst Workshops in Schulen durchzuführen. „Das Engagement als Trainer:in unterstützt sie, ihre Gedanken und Meinungen mit Gleichaltrigen zu teilen und sich so aktiv in gesellschaftliche Prozesse einzubringen. Nicht zuletzt fungiert man mit dem Engagement auch als Vorbild. Du zeigst anderen, dass es möglich ist, durch aktives Handeln Veränderung zu bewirken“, erklärt Sahin.
Doch „Ruhrpott für Europa“ endete nicht mit der Europawahl: Unter dem Dach der mittlerweile gegründeten Initiative „Young Politics“ geht es weiter. Denn die Bundestagswahl steht an und in regelmäßigen Abständen finden auf Europa-, Bundes-, Landes- und Kommunalebene Wahlen statt. Auf jeder dieser Ebenen möchten sich Tabesch und Sahin mit ihrer Initiative einsetzen. Tabesch betont: „Für 2025 wäre es toll, wenn wir mit Schüler:innen über die kommunale Europaarbeit und die Bundestagswahl sprechen und perspektivisch ab 2026 auch auf die Landtagswahl hinarbeiten. Denn bei der letzten Landtagswahl 2022 gingen nur ca. 40% der Erst- und Jungwähler an die Wahlurne.“
Deshalb haben Tabesch und Sahin die Workshops für Schulklassen weiterentwickelt. Diskussionen mit Bundespolitiker:innen sind in Planung, ebenso ein TikTok-Kanal. Überhaupt wird Social Media weiterhin eine große Rolle spielen. „Heutzutage sehen wir ganz klar – auch an Statistiken – dass Bildung über das Internet bzw. soziale Medien weitergetragen wird“, sagt Sahin. „So können wir auch all diejenigen erreichen, die vielleicht nicht die Möglichkeit haben, an politischen Prozessen teilzunehmen oder die mitgestalten wollen, aber nicht wissen, wie.“